Der persische Weise Nasrudin befand sich einmal auf einer Fähre, die einen breiten Strom überquerte. Neben ihm stand ein Gelehrter, der angesichts seines immensen Wissens arrogant und aufgeblasen tat.

Er fragte Nasrudin: “Haben Sie jemals Astronomie studiert?”
“Nein”, antwortete Nasrudin.
“Oh, da haben Sie aber viel von Ihrem Leben vergeudet! Mit dem Wissen über die Sterne kann ein Kapitän ein Schiff durch alle Weltenmeere navigieren.”
Der Gelehrte fragte dann: “Haben Sie jemals Meteorologie studiert?”
“Nein”, antwortet Nasrudin.
“Nun, dann haben Sie auch hier große Teile Ihres Lebens verschwendet! Wer über die Winde und das Wetter weiß, kann ein Schiff sicher und schnell von einem Ort zum anderen bringen.”
Es folgte die Frage: “Und haben Sie wenigstens die Meereskunde studiert?”
“Nein“, antwortete Nasrudin.
Mit mitleidigem Lächeln sagte der Gelehrte: “Zu schade, wie Sie auch hier Ihr Leben verschwendet haben! Die Kenntnis der Ströme ist unerlässlich um ein Schiff zu steuern.”

Einige Minuten später stand Nasrudin auf, um ans Ende des Schiffs zu gehen. Beim Vorbeigehen fragte er den Gelehrten: “Haben Sie jemals schwimmen gelernt?”
“Nein, dazu hatte ich keine Zeit.”
“Dann haben Sie Ihr ganzes Leben verspielt, denn dieses Boot sinkt gerade.”

(nach Alan Cohen)

Wie sieht eine Schule aus, in der die Kinder „schwimmen“ lernen?

1. SchultagMitte August starten zahlreiche Mädchen und Buben in der Schweiz an ihrem ersten Schultag in einen neuen Lebensabschnitt. Es stellt sich die Frage, welche Fähigkeiten und welches Wissen sich diese jungen Menschen in ihrer Schullaufbahn aneignen müssen, um später in unserer Gesellschaft bestehen zu können. Wie lernen Kinder nachhaltig, damit sie in Zukunft schwimmen können?

Voller Erwartungen starten die Kinder in den Unterricht. Gerade in den ersten beiden Schuljahren erzielen die Schülerinn*innen grosse Lernerfolge – die Kinder lernen, meist angeleitet durch eine Lehrperson, lesen und schreiben. Diese Fähigkeiten bilden die Grundlage für einen grossen Teil unseres späteren Lernens. Folgende Aussage von Gehirnforscher Prof. Dr. Gerhard Roth jedoch stimmt nachdenklich:

„Alle Überprüfung des Wissens, das junge Menschen fünf Jahre nach Schulabschluss noch besitzen, laufen darauf hinaus, dass das (deutsche) Schulsystem einen Wirkungsgrad besitzt, der gegen Null strebt.“ (Jesper Juul, Schulinfarkt, S. 12)

Versagt unser Schulsystem? Woraus resultiert der schlechte Wirkungsgrad? Werden falsche Inhalte gelehrt? Warum verlieren viele Schüler*innen während ihrer Schullaufbahn Motivation, Neugier und das wirkliche Interesse am Unterrichtsstoff?

Neugierig durchs Leben

Oft vergessen wir, dass Lernen ein vollkommen natürlicher Vorgang ist und bereits vor der Geburt einsetzt. Jedes Kind will lernen! Mit unzähligen neugierigen Warum – Fragen suchen kleine Kinder nach Antworten zu ihren Beobachtungen und Entdeckungen im täglichen Leben. Im Spiel bereitet sich das Kind handlungsorientiert auf Abläufe aus dem „richtigen Leben“ vor und sammelt so wichtige und wertvolle Erfahrungen. Spielen ist Lernen.

„Eigentlich hängt unser Überleben als Individuum und als Art von unserer Neugierde, unserem Drang unsere Umwelt zu erforschen und unserer Fähigkeit, neue Ideen aufzunehmen und neue Dinge zu lernen, ab.“ Christopher Knapper

Ziel des Unterrichts muss es also sein, genau diese Neugierde und den natürlichen Wissensdrang zu erhalten und fördern. Ich bin überzeugt, dass ein vielseitiger, abwechslungsreicher Unterricht, geprägt durch unterschiedliche Lernformen, wie selbstorganisiertem und selbstgesteuertem Lernen, aber auch gutem Frontalunterricht, viel dazu beiträgt. Wichtig ist ein Lernumfeld, in dem das Kind möglichst ohne Prüfungsstress und Selektionsdruck in seinem Tempo lernen kann und Beziehungen gelebt werden.
Nur allzu oft lernen Schüler*innen für eine gute Note und hetzen von Test zu Test. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Lerninhalt tritt so in den Hintergrund. Die Noten haben einen hohen Stellenwert – sie entscheiden über Selektion oder das Überstehen eines Probesemesters. Ein bedauernswerter Umstand, denn echtes Interesse und eine vertiefte Auseinandersetzung mit Inhalten ist zentrale Voraussetzung für nachhaltiges Lernen.

Hilf mir es selbst zu tun

Dieser Grundgedanke der Montessoripädagogik fordert, dass Lernen selbstgesteuert sein sollte. Im selbstgesteuerten Lernen übernehmen die Lernenden selbst die Verantwortung für ihr Lernen. Lehrpersonen konzentrieren sich weniger auf die Vermittlung von Lerninhalten, sondern vielmehr auf das Schulen der Fähigkeit „Lernen wie man lernt“.

Ergänzend zur klassischen Wissensvermittlung müssen in der Schule vermehrt individuelle Lernstrategien entwickelt und erprobt werden. Dazu braucht es klare Anleitungen und eine enge Begleitung durch die Lehrperson. Je nach Lerntyp müssen andere Hilfsmittel und Lernstrategien ausprobiert, angewendet und reflektiert werden.

Anregende und binnendifferenzierte Lernumgebungen animieren die Lernenden, sich selbständig Wissen anzueignen. Kinder lernen so durch Spielen, Nachahmen, Handeln und Ausprobieren, wie im Kindergarten – neugierig, selbst organisiert, begleitet – noch ganz „unverschult“ und mit viel Spass.

Nachhaltiges Lernen – Überfachliche Kompetenzen

Veröffentlichungen des Deutschen Industrie- und Handelskammertages belegen, dass fast die Hälfte der Unternehmer mehr Wert auf „gute soziale und persönliche Kompetenzen“ als auf schulische Leistung legt. So ist für 71% der Unternehmer und Personalverantwortlichen Teamfähigkeit die bedeutendste Kompetenz, die sie von Hochschulabsolventen erwarten. 63% der Unternehmen bezeichnen selbständiges Arbeiten / Selbstmanagement als eine der wichtigsten Kompetenzen, gefolgt von Einsatzbereitschaft (60%) und Kommunikationsfähigkeit (59%). (Jesper Juul, Schulinfarkt, S.12)

Um ein Schiff sicher steuern zu können, braucht es also genau diese Kompetenzen: Selbständigkeit, Selbstreflexion, Eigenständigkeit, aber auch Dialog- und Kooperationsfähigkeit, Konfliktfähigkeit und Umgang mit Vielfalt, sowie Sprachfähigkeit und die Fähigkeit, Informationen gewinnbringend nutzen und /Probleme lösen zu können. Eine gute, nachhaltige Schulausbildung fördert genau diese Kompetenzen. Der  Lehrplan 21 weist in diese Richtung.

Lernen als soziale Aktivität

Wichtiger noch als die Wahl der passenden Lernformen zum Erlangen der erwähnten Kompetenzen, sind die zwischenmenschlichen Begegnungen und Beziehungen. So kann unter Umständen Frontalunterricht „besser“ sein, als selbstorganisiertes Lernen – und die Lernformen müssen (je nach Reformrichtung) nicht weiter gegeneinander ausgespielt werden.

Bereits aus der systemischen Forschung der sechziger Jahre weiss man: Die Beziehungsebene bestimmt die Inhaltsebene. Dr. P. Watzlawick unterstreicht mit folgender Aussage: 80% der Unterrichtswirksamkeit – also des Unterrichtserfolges der Schüler*innen – definiert sich primär über die Beziehungsqualität zwischen Lehrern und Schüler*innen (Schulinfarkt, Jesper Juul) die Wichtigkeit der Beziehung.

Kooperatives Lernen fördert Team- und Kommunikationsfähigkeit. Zentral für das kooperative Lernen ist, dass jeder sowohl für das Lernen der Gruppe als auch sein eigenes verantwortlich ist. In verschiedenen Schritten wird in Einzelarbeit, Partner- Gruppenarbeit so wie der Präsentation in der Klasse gelernt. (Think – Pair – Share)

Die Beziehungsqualität im täglichen Unterricht aufzubauen und sie mit den Schüler*innen zu leben, muss das wichtigste Ziel einer Lehrperson sein. Voraussetzung dazu ist echtes Interesse am Gegenüber. Gerade Unterricht ausserhalb des Schulzimmers, zum Beispiel überfachliche und altersdurchmischte Projekttage, Waldtage mit Partnerklasse, Landschulwochen, Sportlager, Schultheater gehören meist zu den prägendsten Erinnerungen an die eigene Schulzeit. Denn oft konnten Beziehungen in solchen Projekten wirklich gelebt und vertieft werden.

schiffsteuer
Durch gelebte Beziehungen stärken Eltern und Lehrpersonen Kinder und Jugendliche in ihrer Persönlichkeit. Mit gesundem Selbstwert und Selbstsicherheit lernen sie, ihr Schiff sicher durch stürmische See zu steuern.

Können Sie schwimmen?
  • Was sind Ihre prägendsten Erinnerungen an die Schulzeit?
  • Was ist das Wichtigste das Sie gelernt haben?
  • Wer war Ihr(e) beste(r) Lehrmeister(in)
  • Welches sind Ihre Lernstrategien?
  • Was wollen Sie unbedingt noch lernen oder wieder lernen?
Leseempfehlungen zum Thema Schulstart / Lernen
  • Wie wir Schule machen, Alma, Jamila, Lara, Luna, www.knaus-verlag.de
  • Der Schulinfarkt, Jesper Juul, www.koesel.de
  • Lass mir die Welt, verschule sie nicht!, Peter Fratton, www.beltz.de
  • Lebenslanges Lernen ist wirkungsvolles, nachhaltiges Lernen:
    Prof. Dr. Christopher Knapper Queen’s University, Kinston, Ontario, Kanada
  • Lernen macht Spass, Brigitte Weninger, Neugebauer
  • Die Geschichte vom Löwen der nicht schreiben konnte, Martin Baltscheit, www.beltz.de
  • Wenn die Ziege schwimmen lernt, Nele Most und Pieter Kunstreich, Beltz & Gelberg
Haben Sie niemals Schwimmen gelernt?

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